Moers. Ist NRW ein gutes Pflaster für Kriminelle? Mit dieser Frage beschäftigt sich der fünfteilige Kriminalreport und skizziert den Weg eines Straftäters von der Straftat bis zur Haftentlassung. Diesmal: die überlasteten Gerichte.
Als Daniel F. auf einer Party mit Steinen und Faustschlägen randalierte, holte er gerade seinen Hauptschulabschluss nach, hatte eine blonde Freundin und verbüßte eine Bewährungsstrafe. Heute ist der junge Mann, 23, arbeitslos, hat eine dunkelhaarige Partnerin – und Glück. Zeuge um Zeuge, selbst die, die Anzeige erstatteten, zucken vor dem Amtsgericht in Moers mit den Schultern. Nein, an Einzelheiten erinnerten sie sich nun wirklich nicht mehr. Wer mag es ihnen verübeln, zweieinhalb Jahre nach der Tat.
Was zunächst wie eine Justizposse klingt, ist in deutschen Gerichten nicht unüblich. Zwar seien zweieinhalb Jahre die Spitze des Eisbergs, gibt Reiner Lindemann zu, „doch die Überlastung der Gerichte ist spürbar.“ Lindemann ist NRW-Vorsitzender im Bund der Richter und Staatsanwälte – und jener Verband stellte jüngst einen erheblichen Personalmangel fest: Demnach fehlen allein in Nordrhein-Westfalen 510 Richter und 213 Staatsanwälte. Sogar das Justizministerium hat ausgerechnet, dass die Arbeitsbelastung an Gerichten bei 111 Prozent liegt – und damit viel zu hoch. Doch an den „real existierenden Schreibtischen“, wie sie Lindemann nennt, ist die Last noch erdrückender. „Entweder man haut Akte um Akte weg und übersieht womöglich wichtige Details. Oder man arbeitet jeden Fall gewissenhaft ab, und die Aktenberge türmen sich auf dem Schreibtisch.“
Lindemann, seit 31 Jahren selbst Richter, gehört zu Typus zwei. Roséfarbene Akten stapeln sich in seinem Büro, ein Zettel mit der Aufschrift „Sofort“ springt ins Auge. Die Frist drängt. „Die Arbeit hat in den letzten Jahren an Reiz verloren, da man sich den Fällen nicht mehr so widmen kann wie es nötig wäre.“ Und dann sagt er ganz nebenbei einen Satz, der als ernstes Warnsignal zu verstehen ist: „Wir setzen durch diese Überlastung unsere schlagkräftige Justiz aufs Spiel.“
Überstunden an der Tagesordnung
Lindemann ist kein aufgeregter Mensch, keiner, der Panik nur um der Panik willen macht. Er sorgt sich um seinen Berufsstand. Weil er sieht, dass er und seine Kollegen seit Jahren mehr als 50 statt der festgeschriebenen 41 Stunden pro Woche schuften und das Pensionsalter längst auf 67 Jahre angehoben wurde – und sie der Fallzahl trotzdem nicht Herr werden. „Jüngere Kollegen knüppeln sogar mehr als 60 Stunden. Die wollen sich schließlich noch weniger nachsagen lassen, dass sie schludern.“ Er sieht auch, dass der Europäische Gerichtshof die deutsche Justiz und ihre lahmen Gerichte wegen einzelner exzessiv langer Prozesse Jahr für Jahr rügt. Und den Bund immer wieder zu hohen Geldstrafen verurteilte. Die Folgen: keine.
„Noch verfügen wir über eine schlagkräftige Justiz, die ein Echo in der Gesellschaft hervorruft. Doch wir laufen derzeit Gefahr, den weltweit guten Ruf kaputt zu machen“, sagt Lindemann. Tatsächlich ist das deutsche Rechtssystem ein Exportschlager. Es gilt als effektiv und kostengünstig, im weltweiten Vergleich rangiert Deutschland gar unter den besten Fünf. Auch deshalb wurde es unter anderem von Kambodscha und dem Vietnam übernommen.
In der Praxis ist die Lage komplexer. Und sie droht sich weiter zuzuspitzen: Jeder zweite Richter ist schon jetzt eine Frau. Zudem zeigen die aktuellen Bewerbungen, dass sich dieser Trend verstärkt. „Ausfälle durch Schwangerschaften oder Elternzeit könnten derzeit gar nicht aufgefangen werden“, mahnt Lindemann. Und das in Zeiten, in denen immer mehr geklagt wird. Während 1990 noch 132 000 Fälle vor nordrhein-westfälischen Gerichten verhandelt wurden, waren es 2010 schon 175 000.
Der „Deal“ wird immer beliebter
Deshalb wird der „Deal“ immer beliebter. Was früher in Hinterzimmern gemauschelt wurde, ist heute gesetzlich geregelt. „Verständigung im Strafprozess“ heißt der Absatz und meint frei übersetzt: Gib’ uns ein Geständnis, wir vermeiden ein aufwendiges Verfahren, und du bekommst eine mildere Strafe. „Das geschieht natürlich zu Gunsten des Angeklagten“, gibt Lindemann offen zu, „gerade Landgerichte greifen immer häufiger auf dieses Mittel zurück.“ Auch dies, so wird hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, ist eine Begleiterscheinung von überlasteten Gerichten.
Gerade an Sozialgerichten – Hartz IV lässt grüßen – ist die Belastung am höchsten. Ein Jahr dauert dort im Schnitt ein Verfahren. Schlimmer ist die Situation nur bei der Wirtschaftskriminalität: Hier zieht sich so ein Prozess 17 Monate.
Der Fall von Daniel F., der den Steinwurf einräumte, blieb sogar zweieinhalb Jahre liegen. Nun wurde er zu 25 Sozialstunden verurteilt. Auch wegen Mangels an Beweisen. „Es kann sein, dass manch ein Angeklagter an einem Urteil, das er eigentlich verdient hätte, vorbeikommt.“ Reiner Lindemann, Richter am Amtsgericht in Moers, hat es gefällt. Viel Zeit, dieses zu bewerten, bleibt nicht. Der Aktenberg wartet.
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